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Russland in Europa – Europa in Russland 200 Jahre Ivan Turgenev

Eine fremdartig anmutende Wucht, eine beeindruckende Monumentalität und eine stolze Zähigkeit verbinden wir heute mit dem flächengrößten Land der Erde: Russland. In der Aufgeregtheit der Tagespolitik wird die Vorstellung Russlands als anders geartete Kultur, fern von Nähe und Vertrautheit stark gefördert. Vielfach in Vergessenheit gerät, dass auch in Russland berühmte Künstler ebenso selbstverständlich verkehren wie hochrangige Politiker und dass auch Russland als zwanglose, alle Grenzen überschreitende interkulturelle Gesellschaft gelten kann. In Zeiten, in denen sich politische Fronten zunehmend verhärteten und Russland – ganz ähnlich wie heute auch wieder – zunehmend an den Rand Europas gedrängt wird, ist es erstaunlich, welch umfassendes Netzwerk aus Kulturgeschaffenen Ivan Turgenev solchen erschwerten Bedingungen aufzubauen verstand: die Effizienz und Weitsichtigkeit seiner Urteile und Handlungsstrategien macht ihn hochaktuell, obwohl er oft im Schatten von Fedor Dostoevskij (1821-1881) und Lev Tolstoi (1828-1910) steht. Ein allein biographischer Zugriff auf Ivan Turgenev würde wenig befriedigend sein, weswegen ein neues Ausstellungskonzept, das bis Ende 2020 im Baden-Badener Museum der Muße und Literatur zu sehen ist, verwirklicht wurde. Umso reizvoller erscheint die Aufgabe, sich dem Thema „Russland und der Westen“ nicht in Form hundert Mal gehörter, ideologisch festgefahrener Statements zu nähern, sondern multiperspektivisch, gleichsam zufällig und absichtslos über das Wirken einer kulturellen Mittlerfigur des 19. Jahrhunderts zu lesen und zu verstehen. Ivan Turgenevs Leben und Schaffen dient als Fokus für die Erkundung historischer und gegenwärtiger Kontexte, da dieser mehr als die Hälfte seines Lebens in Westeuropa verbrachte, allein sieben Jahre davon in Baden-Baden (1863-1870) und mehr als zehn Jahre in Paris. Die Ausstellung in Baden-Baden, welche die Schüler der Oberstufe, die Russisch gewählt haben, einschließlich der zehnten Klasse unseres Gymnasiums, im Frühling des Jahres 2019 besuchten, beantwortet Fragen, welche sich mit deutsch-russischen Entwicklungen, Verflechtungen, Hybridisierungsprozessen, bipolarem Denken, kulturellen Unterschieden, Fremdenfeindlichkeit und Freundschaft beschäftigen. Abgesehen von dem gut erhaltenen materiellem und immateriellem Erbe ist die Kur- und Bäderstadt am Rand des Schwarzwalds ein Symbol für international bedeutsame Treffpunkte von Adligen und wohlhabenden Bürgern, welches seine Blütezeit im 19. Jahrhundert erfuhr. Die russischgeprägte Trinkhalle, das Kurhaus und das Casino waren durch große russische Literaren, die im 19. Jahrhundert zu den prominenten Gästen der Stadt zählten, in ihren Werken verewigt, die in Sowjetzeiten zu den Pflichtlektüren russischer Schüler gehörten und Baden-Baden wurde zu einem russischen Mythos. Ab den 1820er Jahren wurde es in Russland Mode Baden-Baden zu besuchen, auch wenn die mehrwöchige Reise per Kutsche mit einigen Mühen verbunden war. Unter den Gästen befanden sich Vertreter des russischen Hochadels, wie die Familie Menschikov und die Familie Gagarin und berühmte Literaten wie Turgenev, Tolstoj, Dostoevskij und Gogol. Insbesondere die Baden-Badener Spielbank hatte eine große Anziehungskraft auf die russischen Gäste. Das Museum, dass uns Schülern als Lernquelle dienen sollte, ist in unterschiedliche Themenwelten unterteilt, welche in vielfältiger Weise das Verhältnis zwischen Russland und dem „Westen“ berühren. Stereotype und narrative Muster werden auf ihre historischen Hintergründe befragt. Immer aber bleibt das Hauptziel, dass die Besucher sich selbst in die erzählten Geschichten einbringen, einen eigenen Bezug herstellen, was uns, zumeist Kinder russischer Einwanderer, nicht schwerfiel. Die Ausstellung ist – dem grundlegenden Medium der Literatur verpflichtet – wie ein Buch konzipiert. Auf diese folgend, besuchten wir eine russische Kirche in Baden-Baden, welche, wie es üblich ist, einen vergoldeten Zwiebelturm besaß. Sie ist im nordrussischen Stil erbaut, damit die russische Kolonie in Baden-Baden ihre Gottesdienste nicht mehr in Privaträumen abhalten musste. Es befindet sich ein Mosaik über dem Portal, welches in den prächtig ausgestatteten Innenraum führt. Die zeitliche Entwicklung des orthodoxen Kirchenbaus zeichnet sich durch eine stärkere Verbundenheit an der spätrömischen Architektur und dem weniger häufigen Aufgreifen architektonischer Moden, als etwa bei den westkirchliche (katholischen und protestantischen) aus. Orthodoxe Kirchen haben beispielsweise keine Orgeln oder Sitzbänke und sind prächtig ausgemalt. In Griechenland wie in Russland schmückt man die Innenwände und Gewölbe der Kirchen gerne mit Mosaiken oder mit Verzierungen aus Gold, wobei man sicher nicht die Absicht hatte in irgendeiner Weise zu Geizen. Der Ausflug nach Baden-Baden lohnte sich rückblickend, da wir neue, russischgeprägte und prunkvolle Architektur und sehr teure Autos die Straßen von Baden-Baden entlangrollen sehen konnten. Der einzige zu beklagende Minuspunkt ist die Museumsführerin, welche kein Wort Russisch sprach und es uns schwer machte die etlichen russischen Namen der Schriftsteller, Fürsten und Einflussnehmer zu verstehen. Für die magere russische Aussprache kann man als Nicht-Muttersprachler natürlich nichts, dennoch lässt sich ein Informieren über die näherungsweise richtige Aussprache doch erwarten. Dies lag allerdings nicht im Einflussbereich der Lehrkräfte, welche uns begleiteten und den Ausflug organisierten. Interessant war er allemal.